Die Götter werden überstimmt
Antike Tragödie, russische Klassiker: Das georgische Theater zeigt Widerstandskraft und Eigenständigkeit. Über allem schwebt die Furcht vor dem Aggressor Putin. Ein Besuch in Tiflis
Von Rüdiger Schaper
Wo sie stehen. Wandmalerei in Tiflis mit der georgischen und der ukrainischen Flagge. In der Mitte ein Motiv des berühmten georgischen Malers Niko Pirosmani.
Im staatlichen Marjanishvili-Theater steht Leo Tolstois „Kreutzersonate“ auf dem Programm. Wenn bei uns vor der Vorstellung das Publikum aufgefordert wird, die Handys auszuschalten, kommt in Tiflis jetzt die Ansage: Zwanzig Prozent Georgiens sind von Russland okkupiert.
Das bezieht sich auf die Gebiete Südossetien und Abchasien, die sich in den 1990er Jahren mit Russlands Hilfe für unabhängig erklärt haben. Eine Viertelmillion Georgier floh damals aus den abtrünnigen Provinzen. Faktisch war es eine Annexion in Putins Machtbereich. 2008 kam es zu direkten Kriegshandlungen zwischen russischen und georgischen Truppen. 2014 nahm sich der Diktator im Kreml die Krim.
Sind sie die Nächsten? Der Krieg gegen die Ukraine alarmiert die Kaukasus-Republik, die Mitgliedschaft in der Nato und der EU beantragt hat. Georgien gehörte zur Sowjetunion und war schon in der Zarenzeit ein Spielfeld russischer Expansion und Protektion. Das Russische hat sich nie aus dem Land verabschiedet.
Auch das passiert: Im Tumanishivili Film Actors Studio gibt es eine Neuinszenierung der „Hamletmaschine“. Eine Frau aus dem Ensemble tritt vor das Publikum und erklärt ihre Solidarität mit der Freiheitsbewegung in Iran. Sie schneidet sich eine Locke ab, eine Geste des Protests, die in Frankreich von prominenten Schauspielerinnen übernommen wurde. Die Mullahs, Putins Verbündete, machen dicht. Eine zum Festival eingeladene iranische Theatertruppe durfte nicht nach Tiflis kommen.
In der für unsere Verhältnisse vielleicht etwas schlichten Interpretation von Heiner Müllers legendärem Text aus dem Jahr 1977 werden Bildschirme mit den Köpfen von Marx, Mao und Lenin zertrümmert. Stalin fehlt bei der theatralischen Abräumaktion, den kann man in seiner georgischen Heimat als Kühlschrankmagnet kaufen. Stalin ist auf dem Flohmarkt von Tiflis Folklore in vielen Variationen. An Souvenirständen im Park gibt es „Fuck Putin“-T-Shirts. Überall in der Stadt prangen „Fuck Russians“-Graffiti. Und: „Russia is a terrorist state“.
„We stand with Ukraine“, ertönt es aus den Lautsprechern vor einer Aufführung von Samuel Becketts Minidrama „Come and Go“. Der Georgian Show Case 2022 steht im Zeichen der Weltkrise. Die Hauptstadt Tiflis ist nur fünfzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das Festival Anfang Oktober mit 35 Produktionen spiegelt eine reiche Theaterlandschaft und Bühnentradition. Georgien, unabhängig seit 1991, hat rund 3, 7 Millionen Einwohner und Dutzende Theater.
Tiflis hat sich in letzter Zeit auch als heiße Destination der Clubkultur entwickelt. Im Festival-Hotel wird das Partyvolk „Fun finder“ genannt. Ältere Touristen aus dem Westen machen Wanderurlaub in den Bergen und besuchen die Weinregionen in Kachetien. Für Russen, die sich dem Militärdienst entziehen können, ist Tiflis der Fluchtpunkt. Russische Autos fallen im Straßenbild auf, meist teure Marken. Täglich sollen Tausende Russen nach Georgien kommen. Die Staus an der Grenze sind kilometerlang.
Georgien, nicht größer als Bayern, will helfen, aber viele Menschen in Tiflis fürchten eine russische Unterwanderung. Was Putin wie im Donbass zum Vorwand für einen Angriff nehmen könnte. Das hört man immer wieder hier. Jetzt schon würden Russen Wohnungen in Tiflis mieten und kaufen, was die Preise in die Höhe treibe. Die meisten Georgier halten da finanziell nicht mit. Man wisse auch nicht, wer da in den langen Kolonnen russischer Privatwagen kommt. Wer da vielleicht geschickt wird.
„No Russians welcome – good or bad“, „Get out from my country“. Auch das kann man auf Mauern lesen. Sie sind schon da. Im Einkaufszentrum „Galleria“ am Rustaveli-Boulevard hat das russischsprachige Gribojedow-Theater seinen Sitz. Auch dort läuft die Saison. Gegenüber in der Staatsoper wurde jetzt wieder einmal mit großem Tamtam und krachenden Tanzeinlagen „Keto und Kote“ gegeben. Das Stück von Victor Dolizde, 1919 uraufgeführt, gilt als georgische Nationaloper, mit sämtlichen Klischees: Feierfreude, Trinkgelage, Lob der Gastfreundschaft und der georgischen Natur.
Von Alexander Puschkin und Michail Lermontow im 19. Jahrhundert bis zu Andrej Bitows „Georgischem Album“, 2003 in deutscher Ausgabe erschienen: Der Südkaukasus war immer schon russisches Sehnsuchtsland. Der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck reiste 1948 mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion. Er schrieb: „Wo wir in Russland auch waren, überall hörten wir das magische Wort: Georgien. Menschen, die nie dort waren und vielleicht auch nie dahin fahren können, sprachen von Georgien. Man sprach über Georgien wie über ein zweites Paradies.“
Den Menschen in diesem Paradies am Rande Europas ist diese Schwärmerei schon in der Antike nicht gut bekommen. Dem Mythos nach stehlen Jason und seine Argonauten aus Kolchis das Goldene Vlies und nehmen die Königstochter Medea mit. In Georgien, an der Ostküste des schwarzen Meeres in Kolchis, entspringt der Medea-Stoff, im Show Case in einer neuen Version zu sehen, allerdings ohne die diebischen Griechen. „Argo“ heißt in Georgien eine Biermarke, wie „Mythos“ in Griechenland.
Die Bühnen in Tiflis spielen, anders als die Theater in der Ukraine, weiter russische Autoren. Aber nur Klassiker, nichts Zeitgenössisches oder Sowjetisches. Am Marjanishvili-Theater gibt es auch Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Das Neue Theater begeistert das Publikum – fast alle Vorstellungen beim Show Case sind voll – mit einer leidenschaftlich interpretierten „Möwe“ von Tschechow. Vier Stunden Gefühlsathletik, mit reichlich Handy- und Videoeinsatz. Eindeutig der Einfluss von Frank Castorf und der Volksbühne, dort begann vor 25 Jahren die schöne neue Videowelt.
Der Berliner Schauspieler Martin Wuttke plant eine Zusammenarbeit mit georgischen Schauspielern vom SuchumiDrama-Theater, die 2008 im russisch-georgischen Krieg aus Abchasien geflohen sind. Das Thema ist Exil, nach Joseph Roths Roman „Die Flucht ohne Ende“. Man hofft, später ein Gastspiel in Berlin an der Volksbühne realisieren zu können.
Wenn die Arkadina, die große „Schauspielerin“ in Tschechows Komödie, im vierten Akt schwärmt, „wie man mich in Charkow gefeiert hat, meine Lieben“, dann wird das Ausmaß der Katastrophe des von Russland am 24. Februar begonnenen Bruderkriegs klar. Heute heißt es ukrainisch Charkiw.
„Möwe“-Regisseur David Doiashvili präsentiert am Neuen Theater auch „Ödipus Tyrannus“ von Sophokles, eine der stärksten Inszenierungen zurzeit in Georgien, international absolut konkurrenzfähig. Die leidenschaftliche Beziehung des Powerpaares Nino Karsradze als Iokaste und Kakha Kintsurashvili als ihr Sohn und Ehemann steht im Mittelpunkt. Mit seinen enigmatischen Ansagen spielt das Orakel von Delphi eine mutwillig böse Rolle. Hier aber wird das Publikum befragt: Was hat die Pandemie beendet? Die Impfungen oder der Krieg? Was ist gefährlicher für die Menschen? Das Virus oder der Krieg?
Die georgischen Zuschauerinnen und Zuschauer reagieren schnell. Oft setzt es Szenenapplaus, auch wenn es im Grunde gar nichts zu beklatschen gibt – wenn zum Beispiel in der „Möwe“ der junge Dichter Treplew abgeht, der Sohn der Arkadina. Er wird sich nachher erschießen. Sie klatschen sofort mit, wenn eine Melodie zündet, feiern ihre Bühnenstars, mit dem Handy in der Hand. Sie beziehen Energie aus den alten, harten Geschichten des europäischen Kanons.
Es zeigt sich in diesem Moment: Die griechischen Klassiker entfalten große Kräfte hier. Sie sind entstanden vor 2500 Jahren in Zeiten des Kriegs und der Krise in Athen, das wird oft vergessen. Sie kennen keine Zeitbegrenzung. Ödipus aber rebelliert. Der Schauspieler will nicht weiterspielen, als die schreckliche Wahrheit sich herauszuschälen beginnt. Dass er doch der Mörder seines Vaters ist und der Gatte seiner Mutter. Er wehrt sich gegen die endgültige, demütigende Niederlage des Individuums, von den Göttern so beschlossen zur ihrer Unterhaltung und zum Beweis ihrer Macht.
Dieser Ödipus in Tiflis steigt aus, versucht das Los selbst in die Hand zu nehmen. Und das Publikum wird gebeten, darüber abzustimmen, ob er doch weiterspielen muss. Fast immer lautet das Ergebnis aus dem Auditorium: Stopp! Mach der Tragödie ein Ende! Es ist auf der Bühne eine Kraft und eine Wut zu spüren, die nicht ohnmächtig sein will.