Theaterbrief aus Georgien - Wie das georgische Theater mit Geistern der Antike und der sowjetischen Geschichte spielt

Als Hamlet sich von Stalin lossagte

Unter dem Eindruck des Russland-Kriegs gegen die Ukraine ging das diesjährige Internationale Theaterfestival von Tiflis über die Bühne. Und zeigte im "Georgischen Showcase" Inszenierungen, die mit dem sowjetischen Erbe ringen und die Entfernung zum Westen vermessen.

Von Esther Slevogt

Die georgische Nationalkomödie "Khanuma" in einer Inszenierung vom Zestafoni Professional State Drama Theatre "Ushangi Chkheidze" © Zestafoni Theater

27. Oktober 2022. Es ist die Woche nach der russischen Mobilmachung, einer neuen Eskalationsstufe im Krieg gegen die Ukraine, als im Foyer des staatlichen Marjanishvili Theaters in der georgischen Hauptstadt Tiflis Ekaterina Mazmiashvili ans Mikrophon tritt und internationale Gäste zu einem "Georgischen Showcase" begrüßt. Ekaterina Mazmiashvili ist die künstlerische Leiterin des Internationalen Theaterfestivals in Tiflis (26. September – 10. Oktober 2022), zu dessen Programm nicht nur internationale Gastspiele, sondern stets auch eine Auswahl von georgischen Theaterproduktionen gehört.

Medien berichten in diesen Tagen von kilometerlangen Staus an der georgisch-russischen Grenze. Etwa tausend Russen kommen jetzt täglich über die offene Grenze ins Land, um sich der drohenden Einberufung ins russische Militär zu entziehen. In Georgien jedoch sind sie unwillkommen, wie nicht zuletzt antirussische Graffiti (in englischer Sprache) überall im Stadtbild der Hauptstadt Tiflis deutlich machen. Man hört von explodierenden Mieten und Immobilienpreisen durch diesen Ansturm. Und von der Angst, Georgien könne von den Russen überrannt werden.

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Internationale Sichtbarkeit

Vor jeder Theatervorstellung erinnert über Lautsprecher eine Stimme daran, dass zwanzig Prozent georgischen Territoriums russisch besetzt sind. Das ist auf die transkaukasischen Republiken Südossetien und Abchasien bezogen, die in den 1990er Jahren im Zuge eines Bürgerkriegs und mit russischer Unterstützung ihre Unabhängigkeit von Georgien erklärten. Georgien seinerseits hatte sich 1991 unabhängig von der Sowjetunion erklärt, die am Ende des gleichen Jahres 1991 endgültig zerfiel. 2008 kam es zum Krieg mit Russland, der die russische Hoheit über die transkaukasischen Gebiete festschrieb. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist die alte Angst wieder da, Georgien könnte das nächste Ziel Wladimir Putins sein.

Mit einiger Dringlichkeit beschwört Festivalchefin Ekaterina Mazmiashvili also vor den internationalen Kurator:innen und Journalist:innen, die zum "Georgian Showcase" angereist sind und nun das Foyer des Marjanishvili Theaters füllen, die Bedeutung, die internationale Sichtbarkeit der georgischen Kultur für ihr Land habe. Als Plattform dafür wurde das Festival bereits 2008 nach dem Kaukasuskrieg gegründet und 2009 zum ersten Mal ausgerichtet. Es hat seitdem auch die Entwicklung des georgischen Theaters stark befördert und an internationale Diskurse angeschlossen.

Jetzt gab es 42, teilweise parallel stattfindende Vorstellungen an fünf Tagen, weshalb das Angebot unmöglich in Gänze zu bewältigen war. Manches fiel coronabedingt kurzfristig aus, Nino Haratischwilis Inszenierung "The Autumn Of Servants" zum Beispiel – Haratischwili, die 1995 als Kind mit ihrer Mutter während des Bürgerkriegs aus Tiflis floh, als Jugendliche allein dorthin zurückkehrte, um dann wiederum zum Studium nach Deutschland zu gehen, wo sie in deutscher Sprache über die georgischen Wirren jener Jahre schieb. Ihre Bücher, mit denen sie hier dann rasch berühmt wurde, fanden erst später ihren Weg auch nach Georgien.

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 Georgiens National-Komödie "Khanuma"

Im Marjanishvili Theater, das nach dem bedeutenden georgischen Regisseur und Theatererneuerer Kote (Konstantin) Marjanishvili (1872–1933) benannt ist, steht am Abend des Eröffnungstages dann als Gastspiel vom Staatstheater der Stadt Zestafoni die Komödie Khanuma von Avksenti Tsagareli (1857–1902) auf dem Programm, von Alexandre Eloshshvili inszeniert. "Khanuma", 1882 uraufgeführt, gehört zu den berühmtesten Stücken des georgischen Theaters. Erzählt wird die Geschichte zweier konkurrierender Heiratsvermittlerinnen im Tiflis des 19. Jahrhunderts: Qubato und Khanuma. Quabato möchte einem alten verarmten Fürsten zur Heirat mit der jungen Tochter eines reichen Kaufmanns verhelfen, der von einem Adelsprädikat träumt. Natürlich liebt die junge Frau einen anderen und der liebt selbstredend auch sie. Die listige Heiratsvermittlerin Khanuma bringt den alten Fürsten dann zum Gaudi des Publikums von seinem Plan ab, die junge Frau ehelichen zu wollen, in dem sie ihm die drohenden Schrecken diese Ehe nach allen Regeln der Komödienkunst ausmalt.

Es ist die alte Geschichte vom Kampf der Ohnmächtigen gegen die Mächtigen und der Macht der Liebe gegen eine schlechte Welt. Anhand von Buffo-Figuren wird aber auch die komplexe soziale Realität der Koexistenz verschiedener Kulturen und Religionen im Tiflis des 19. Jahrhunderts thematisiert. Es geht um lokale Traditionen und die beiden fernen imperialen Bezugs- und Sehnsuchtspunkte jener Jahre: Moskau und Paris. Während sich der alte georgische Provinzadel am zaristischen Moskau orientiert, kommt der junge Neffe des Prinzen (der am Ende die jungen Kaufmannstochter gewinnt) gerade aus Paris, der Hauptstadt der Moderne.

In allen historischen Phasen Georgiens war Tsagarelis Stück stets gleichermaßen berühmt und beliebt. Auf seiner Basis entstand 1919 die erste georgische Nationaloper "Keto und Kote". Aber auch in den sieben Jahrzehnten, in denen Georgien dann eine Sowjetrepublik war, wurde "Khanuma" gespielt, an Theatern in der ganzen UdSSR, darunter auch bedeutende Häuser in Moskau. Mindestens zweimal wurde der Stoff populär verfilmt. Denn er machte einerseits möglich, die Sowjetunion als Siegerin über Feudalismus und Kapitalismus zu feiern, die im Stück aufeinanderprallen. Andererseits stand das Stück symbolhaft für die multikulturelle Sowjetunion.

Heiratskomödie mit traditionellen Tanzformationen: "Khanuma" © Zestafoni Professional State Drama Theatre

Jetzt, in der Inszenierung von Alexandre Eloshvili, fallen die burlesken, folkloristischen georgischen Figuren wie aus einem Traum auf die große leere Bühne. Eloshvili, der hier sein eigener Bühnenbildner ist, hat über die ganze Bühnenweite einen Gaze-Vorhang gespannt. Dahinter erscheinen immer wieder einzelne oder in Gruppen zusammentretende Figuren aus dem Stück wie von einem Schleier verhüllt, der über aller Erinnerung liegt. Davor führt ein mit allen Wassern des Volkstheaters gewaschenes Ensemble diese Typenkomödie auf. Je näher das Happy End der Geschichte rückt, wird das Spiel immer stärker durch die hochritualisierten Formationen des Jahrhunderte alten georgischen Hochzeitstanzes "Kartuli" phrasiert, den professionelle Tänzer:innen in prachtvollen traditionellen Kostümen aufführen. Und so wird die Feier des Siegs der Liebe zunehmend zu einer Feier georgischer nationaler Tradition samt ihrer, in die Richtungen vieler Kulturen offenen Grenzen, zur Türkei, nach Armenien oder nach Persien, das die Region um Tiflis 1795 eroberte – sowie der sehr eigenen Position, die Georgien heute zwischen Europa und Asien, Westen und Osten, aber auch im postsowjetischen Gefüge einnimmt.

Gleichzeitig steht dieser Tanz aber auch für festgeschriebene und kaum verhandelbare Geschlechterrollen in Georgien, was beispielsweise den schwedisch-georgischen Filmregisseur Levan Akin dazu veranlasste, die traditionsreichen georgischen Tänze als Folie für sein LGTBQ-Drama "Als wir tanzten" zu verwenden, der 2019 beim Filmfestival in Cannes Premiere hatte.

Das Land, aus dem Medea stammt

Georgien, das ist auch das Land, aus dem Medea stammt. Im westeuropäischen Kontext gilt die Königstochter aus Kolchis als die Fremde, die in blinder Liebe zum Griechen Jason ihm das Goldene Vließ verschafft, ihre Heimat (und ihre Familie) verrät und sogar den eigenen Bruder tötet, um schließlich mit Jason und dem Goldenen Vließ nach Griechenland zu gehen. Der blutige Ausgang der Geschichte Medeas, die nach dem Scheitern ihrer Ehe die Kinder ermordet, die sie Jason geboren hat, ist bekannt. Im Diskurs des Westens ist die mörderische Medea die Barbarin, Opfer der Männer und der westlichen Kolonisation. So will es die Rezeption des griechischen Mythos von Hesiod bis Christa Wolf. Im georgischen Diskurs ist Medea eine Schlüsselfigur, die das postsowjetische Land an die aus der Antike sich ableitende Kultur des Westens andockt.

Denn Kolchis liegt an der georgischen Schwarzmeerküste. "Das Land des Goldenen Vließ" lautet ein Slogan der georgischen Tourismuswerbung. Eine große, nach der Unabhängigkeit gegründete georgische Biermarke heißt "Argo" – wie das Schiff, mit dem Jason und seine Argonauten vor Urzeiten nach Kolchis kamen. In der georgischen Hafenstadt Batumi am Schwarzen Meer steht seit 2007 ein monumentales Medea-Denkmal, das von manch einem allerdings auch als gigantischer nationalistischer Schildbürgerstreich gescholten wird, da Batumi gar nicht auf dem Terrain des antiken Kolchis liegt. Wer sich in Georgien also mit Medea befasst, muss sie unter Umständen nicht nur gegen westliche Zuschreibungen verteidigen, sondern auch gegen eine Vereinnahmung durch georgische Nationalisten.

Mythen-Dekonstruktion in "Medea s01e06"

Hier knüpft der Dramatiker und Regisseur Paata Tsikolia (*1976) mit Medea s01e06 – Ein Stück für drei Schauspieler:innen und einen stummgestellten Chor an. Die identitätsstiftende Funktion, die Medea für georgische Nationalisten und das aktuelle Selbstbild Georgiens hat, stört ihn schon lange. Deswegen hat der Dramatiker und Regisseur, der zu den produktivsten der mittleren Generation gehört, hier nun eine ganz eigene Sicht auf dem Mythos entwickelt – oder besser gesagt eine kaleidoskophafte wie fragmentarische Umkreisung dieses Mythos. Der enigmatische Code im Titel "s01e06" steht für "Season 1, Episode 6" und das Stück setzt, so die Behauptung der ersten Szene, 40 Jahre nach der 5. Folge der ersten Staffel ein – die es aber natürlich gar nicht gibt. Mit dieser Setzung will Tsikolia lediglich das Fragmentarische seiner Variation über das Medea-Thema aus georgischer/kolchischer Sicht unterstreichen, wie er in einem per Email geführten Gespräch über seine Arbeit schreibt.

Stummgestellter Chor auf der Suche Fragmenten der Medea-Figur in "Medea s01e06" © Royal District Theatre

Die Bühne ist dunkel und karg. Ein minimalistischer Soundcluster der georgischen Komponistin Tamar Putkaradze lädt die Atmosphäre bedrohlich wie archaisch auf. Mit zwei Schauspielern, einer Schauspielerin und vier Tänzerinnen zoomt Tsikolia in elf Szenen Medea, und was sich aus kolchischer Sicht ereignete, bevor sie Kolchis verließ, immer näher heran. Erst weht das Geschehen aus düsteren Berichten von sehr weit her. Schließlich begegnen wir Medea und ihrem Bruder Absyrtos tatsächlich und erfahren von einem Kampf um die Macht in Kolchis, den auch Medea mit allen Mitteln kämpft. Zwischen den Szenen können schon mal mehrere Jahrzehnte liegen, wie projizierte Texte vor jeder neuen Szene behaupten, auch wenn die Theaterzeit stets die gleiche bleibt, Szene und Performer:innen sich äußerlich nie verändern. Texte und Figuren, die von den beiden Schauspielern und der Schauspielerin mal mehr mal weniger konkret modelliert werden, haben ein Gegengewicht in den Tänzerinnen, die als "stummgestellter Chor" das Erzählte mit seinen vielen Wahrheitsfacetten und -schichten gleichzeitig kommentieren und ins Abstrakte entrücken.

Die Uraufführung von Tsikolias Medea-Dekonstruktion fand Anfang September 2020 am Maltakva-Stand statt, im Rahmen des 6. Internationalen Festivals der Regionaltheater von Poti. Data Tavadze, Schauspieler, Regisseur und Künstlerischer Leiter des "Royal District Theatre" in Tiflis, nahm die Produktion später ins Repertoire seines Theaters in der Altstadt von Tiflis auf, einem Zentrum für zeitgenössisches Theater. Die Pandemie war nur einer der Gründe, diese "Medea" im Freien uraufzuführen. Denn beim Festival in Poti passte der Ort perfekt zum Thema: Die Mündung des Flusses Rioni, der hier das Schwarze Meer erreicht, war genau der Ort, wo dem Mythos zufolge einst Jasons Argo in Kolchis landete und später mit Medea und dem Goldenen Vließ wieder Richtung Griechenland verließ. Davon liefert dann die letzte Szene des Stücks verstörende Alptraumbilder: Medea, die ihren ermordeten Bruder zerstückelt und ins Meer wirft, während Jason und die Argonauten schlafen; Medea, die nämlich aus Egoismus, Machthunger und Verachtung zerstört und mordet, sich auch in Selbstverachtung für die eigene Herkunft Richtung Griechenland/Westen orientiert und deshalb für Georgien im Grunde auch keine positive Identifikationsfigur sein kann.

Müllers "Hamletmaschine" als Kommentar auf die Unabhängigkeitsbewegung

Anders verhält es sich mit Hamlet – zumindest wie Heiner Müller ihn sah: als zerrissenen Intellektuellen, dessen Drama in den Wirren des 20. Jahrhunderts nicht mehr stattfinden kann, überschrieben und angereichert werden muss mit Bezügen zu all den Widersprüchen und Schrecken, die sich bis heute überlagern, und kaum zu verarbeiten, ja, überhaupt zu verstehen sind. Zum Beispiel das Paradox, dass die ersten Forderungen nach der Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion 1956 ausgerechnet von Gegnern der Entstalinisierung kamen, die nämlich in der Entsorgung des stalinschen Erbes eine Verschwörung gegen Georgien sahen. Lange war man stolz auf den geborenen Georgier Iosseb Dshugashvili genannt Josef Stalin, der die gesamte große Sowjetunion anführte und den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen hatte. Als nach dem 20. Parteitag der KPDSU drei Jahre nach Stalins Tod sein Nachfolger Nikita Chruschtschow Anfang des Jahres 1956 dessen Verbrechen enthüllte, war der georgische Nationalstolz verletzt, kam der Verdacht einer Verschwörung Moskaus gegen Georgien auf.

Im März 1956 brachen zur Verteidigung Stalins Unruhen in Tiflis aus, die schnell auf weitere Städte der georgischen Sowjetrepublik übergriffen, und wo dann sehr bald auch Forderungen nach der Unabhängigkeit Georgiens laut wurden. Insbesondere junge Menschen trieb der bald niedergeschlagene Aufstand auf die Straßen, unter ihnen auch der damals 16jährige Zviad Gamsakhurdia, der 1991 der erste demokratisch gewählte Präsident Georgiens wurde.

Der Intellektuelle vor dem Splitterhaufen der Geschichte: "Hamletmaschine" © ZUKAO

Wahrscheinlich habe Heiner Müller von diesen Ereignissen gar nichts gewusst, schreibt jetzt der Regisseur Zurab Getsadze in einem Emailgespräch im Nachgang der Vorstellung seiner georgischen Erstaufführung von Heiner Müllers "Die Hamletmaschine" im Rahmen des "Georgischen Showcase". Müller Satz im vierten Teil seines Textes, der sich auch auf den Ungarnaufstand des Jahres 1956 bezieht, habe für ihn in Georgien vor dem paradoxen Hintergrund des georgischen Aufstands des gleichen Jahres einen ganz anderen Klang: "Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten und darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge. Und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas…." Müllers vieldeutiges Stück, das auch Stalin nie direkt benenne, sondern zwischen den Zeilen und in Anspielungen nur als Geist (wie Hamlets Vater) erscheinen lasse, sei für ihn eine ideale Folie, die Paradoxien der jüngeren georgischen Geschichte zu verhandeln.

Dazu hat Getsadze Müllers Text sehr stark beim Wort genommen und spielt ihn hier, im von ihm geleiteten Trumanshvili Film Actors Theatre, fast vom Blatt: Der Protagonist: ein zerrissener junger Mann, der auf einem Sessel mit Hilfe der Fernseh-Nachrichten, deren Fetzen aus einem schon etwas angejahrten TV-Gerät zu hören sind, zwischen der Konferenz von Helsinki (1974) und jüngeren Putin-Auftritten auf Zeit- und Bilderreise geht. Wir sehen Paare und Passanten, die sich auf offener Bühne ineinander verkeilen, dass ein Vorwärtskommen immer schwieriger wird.

Mörderische Gründerväter regieren die Köpfe und das Denken: "Hamletmaschine" © ZUKAO

Demonstrantinnen und Demonstranten, deren Köpfe plötzlich aus alten Fernsehern bestehen, deren Bildschirm jeweils die Bilder von Marx, Mao und Lenin zeigen, lauter Gründerväter des Kommunismus mit seinen Heilsversprechen, deren Denken und Wirken so mörderische Folgen hatte. Die alte, grell geschminkte Königin tritt auf. Immer wieder wechseln sich skurrile Alptraumbilder und -Szenen mit stummen Massenszenen und Monologen ab. Darunter auch die verstörendenden Auftritte von Ophelia und den anderen Opferfrauen, die in Müllers Stück nun zur Rache am Patriarchat aufrufen, dabei aber am Ende im Rollstuhl sitzen, weshalb daraus vermutlich nichts werden wird.

"Oedipus Tirannus" als Medien-Parabel

Doch wie weit müssen wir uns eigentlich dem Sog der Geschichte ergeben, wie es etwa das Genre Tragödie vorschreibt, deren Held:innen am Ende immer untergehen müssen? Können wir nicht aus dem Drama aussteigen, und selbst bestimmen, wie es weitergeht? Diese Frage stellt David Doiashvili in seiner Inszenierung Oedipus Tirannus nach Sophokles. Doiashvili leitet seit 2007 das berühmte "Vaso Abashidze Professional State New Theatre", das in einem spektakulär restaurierten klassizistischen Bau am Davit Aghmashenebeli Boulevard am linken Ufer der Kura residiert. Der 52jährige arbeitet regelmäßig auch am Ungarischen Nationaltheater in Budapest und anderen großen Häusern in West- und Osteuropa.

Jetzt, in seiner Sophokles-Inszenierung, begegnen wir Ödipus als charismatischem Oberhaupt einer einschüchternden Mediokratie – in der Bilder, Propaganda und mediale Inszenierungen alle Wahrheit überlagern und ersticken. Auf zahllosen enormen Bildschirmen erscheint immer wieder auch Oedipus‘ Bild und der Seher Teresias kann die Wahrheit nur deshalb enthüllen, weil er blind ist, also von den medialen Inszenierungen nicht geblendet wird. Doiashivili verknüpft technischen Overkill auf der Bühne mit realistischem psychologischen Kammerspiel: Je klarer Oedipus (gespielt von Georgiens Theaterstar Kakha Kintsurashvili) und Ikokaste (gespielt von der bekannten Film- und Theaterschauspielerin Nino Kasradze) wird, dass ihre Liebe unmöglich ist, weil sie Mutter und Sohn sind, desto verzweifelter verfallen sie einander und lassen das Publikum exzessiv daran teilhaben.

Medienreflexion mit Publikums-Teilnahme: "Oedipus Tirannus" © Vaso Abashidze State Professional New Theatre

Plötzlich aber steigt Oedipus aus aller Spielleidenschaft und auch aus dem Drama aus, wo sein Schicksal längst beschlossen ist, und wendet sich ans Publikum. "Müssen wir das so hinnehmen oder können wir unser Schicksal selbst gestalten?" fragt er uns nun. Auf den Lehnen der Sitze im Zuschauerraum befinden sich QR-Codes, die mit dem Handy gescannt werden können. Dann gelangt man zu einer Seite, wo man per Klick an einer Abstimmung teilnehmen kann, ob Oedipus weiterspielen muss oder sein Schicksal selbst bestimmen darf. Die Entscheidung (die Polls werden live auf die Bühne projiziert) fällt dann deutlich für die Selbstbestimmung aus, zur Begeisterung des Publikums, das die Inszenierung am Ende mit standing ovations feiert.

Sinnlose Opfer sinnloser Kriege

So erzählen die Stücke beim "Georgian Showcase" immer wieder vom komplexen wie komplizierten Prozess der Selbstverständigung über die eigene Geschichte und Identität; von sich überlagernden Wahrheiten und Realitäten, deren Widersprüche sich in Zeiten wie diesen leicht in bewaffnete Konflikte entladen können. Das findet Niederschlag sogar noch im Puppenspiel. So hat der legendäre georgische Puppenspieler Rezo Gabriadze (1936-2021), dessen von ihm selbst gestaltetes Theater in der Altstadt von Tiflis mit seinem Glockenturm eine pittoreske Touristenattraktion ist wie das Hundertwasserhaus in Wien, Verdis Oper "La Traviata" für sein 1984 gegründetes Puppentheater adaptiert.

In Alfred und Violet entfaltet sich das Drama der unglücklich Liebenden vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs nach der Unabhängigkeitserklärung Georgiens 1991. Violett ist die Tochter eines Vertreters der alten Eliten, im Bürgerkrieg brennt ihr prächtiges Elternhaus ab. Der junge Alfred geht in den Westen und kehrt erst zurück, als Violett im Sterben liegt. All das wird herzzerreißend im kunstvollen wie atmosphärenreichen Miniaturformat fast wie eine animierte grafic novel erzählt – und erzählt dabei auch von den sinnlosen Opfern, die die sinnlosen, von nach Eindeutigkeit Gierenden initiierten Kriege von den Menschen immer fordern, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Dabei kann man im georgischen Theater viel darüber lernen, wie gut und produktiv viele Wahrheiten und Kulturen einfach nebeneinanderstehen und einander ergänzen können.

 

 

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